Mathematische Institute
zur Behandlung
der Rechenschwäche / Dyskalkulie

Titel-Grafik: Oberteil eines bunten Würfels

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Mathematische Institute zur Behandlung der Rechenschwäche / Dyskalkulie, München – Augsburg – Regensburg – Rosenheim

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Falsch kalkuliert

Rechenstörungen kommen viel häufiger vor, als lange angenommen. Forscher können die verantwortlichen Hirnregionen inzwischen lokalisieren - und damit in Zukunft zu besseren Therapien beitragen

Manche lieben sie für ihre unbestechliche Logik, andere hassen sie aus eben diesem Grund. Doch unabhängig von unseren Vorlieben: Mathematik ist ein wichtiges Fundament für den Erfolg in Schule, Ausbildung oder Studium. Und selbst wer beruflich einmal ganz anderes tut, braucht sie doch im Alltag - um die richtige Versicherung abzuschließen, ein Haus zu finanzieren oder beim Einkauf Rabattangebote zu überschlagen. Hapert es damit, steigt das Risiko für Arbeitslosigkeit und sogar für psychische Probleme. Besonders betroffen ist eine dritte Gruppe, der sich die Frage, Mathe zu mögen oder nicht, gar nicht erst stellt, weil sie schon an den einfachsten Rechenaufgaben auf Grundschulniveau scheitert, nämlich Menschen mit einer Rechenstörung. Und die tritt neuen Studien zufolge weitaus häufiger auf, als bislang gedacht.

Lange galt, dass nur rund ein Prozent der Bevölkerung von Dyskalkulie betroffen ist. So stand sie stets im Schatten der mit fünf bis sechs Prozent viel häufigeren Legasthenie. Und das macht sich auch im Verhältnis der veröffentlichten Studien zu Legasthenie und Dsykalkulie bemerkbar: 14:1. Stephan Vogel ist Psychologe und erforscht am Numerical Cognition Laboratory der University of Western Ontario in Kanada, wie Zahlen im Gehirn repräsentiert und verarbeitet werden. Das bisherige Schattendasein der Dyskalkulie erklärt er so: „In unserer Gesellschaft werden Rechenschwierigkeiten eher als Normalität wahrgenommen als Schwächen beim Lesen oder in der Rechtschreibung. Auf einer Cocktailparty werden Sie ziemlich sicher jemanden finden, der offen über seine Probleme in Mathe redet, aber kaum jemanden, der seine Probleme beim Lesen und Schreiben offenbart. Das führte zu deutlich mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen für die Legasthenieforschung.“

Doch mit der Erkenntnis, dass die Rechenstörung enorm negative Folgen auf das berufliche wie private Leben haben kann, wächst nun seit einigen Jahren das Interesse an der Dyskalkulieforschung, wie Vogel auch beobachtet. Gemeinsam mit Laborleiter Daniel Ansari nahm er die Studien der vergangenen Jahre unter die Lupe und kommt zu dem Schluss: „Auch die Dyskalkulie betrifft rund sechs Prozent der Bevölkerung.“ In jeder Schulklasse sitzen also ein bis zwei Kinder mit diesem Problem. Warum ihnen mit bloßer Nachhilfe nicht geholfen ist, zeigt ein Blick ins rechnende Gehirn:

Schon Babys und selbst manche Tierarten wie Schimpansen, Ratten oder Raben erfassen Mengen intuitiv. Das erfüllt einen wichtigen evolutionären Sinn, denn wer kapiert, wo es mehr Futter und weniger Feinde gibt, verbessert seine Überlebenschancen. Menschenkinder lernen zu diesen basisnumerischen Fähigkeiten dann noch Symbole für Zahlen, rechnerische Operationen wie Addition und Subtraktion und entwickeln ein zahlenräumliches Verständnis, den sogenannten mentalen Zahlenstrahl. Die dafür nötigen zahlenverarbeitenden Hirnfunktionen sind das Ergebnis eines neuroplastischen Reifungsprozesses: Nicht ein isoliertes Zentrum, sondern ein komplexes, spezialisiertes neuronales Netz ist nötig, um später einmal Textaufgaben lösen oder einen Laplace-Operator anwenden zu können. Zahlwörter zum Beispiel verarbeiten die Sprachzentren der linken Hirnhälfte, und auf die Verarbeitung der Zahlen selbst hat sich vor allem der in beiden Hirnhälften liegende parietale Kortex, genauer der intraparietale Sulcus (IPS) spezialisiert.

Experimente mit dem Funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) belegen genau dort auch Besonderheiten bei Dyskalkulikern (s. Grafik). Zum einen ergab die Volumenbestimmung der grauen und weißen Hirnsubstanz, dass bei ihnen das Volumen des parietalen Kortex geringer ist. „Zum anderen zeigt bei ihnen der IPS eine atypische Aktivierung bei bestimmten Aufgaben, etwa bei der Verarbeitung von Zahlenmengen. Und gerade die ist eine wichtige Grundlage für arithmetische Operationen“, erklärt Vogel. Beim Vergleichen von Mengen, Zahlen und Symbolen oder bei Aufgaben, die exakte Rechenlösungen verlangen, wird der IPS schwächer und auch zeitlich kürzer aktiviert als bei Kindern mit normalen Rechenfähigkeiten. Es gibt also sowohl strukturelle als auch funktionelle Unterschiede im Gehirn der Betroffenen. Und die haben dann von Beginn an Schwierigkeiten im Matheunterricht. Sie können zum Beispiel nicht einmal plus und minus rechnen, sondern zählen bei solchen Aufgaben einfach durch. So fehlt bereits die Basis für Erfolge in dem Fach.

Häufige Folgen sind ein negatives Selbstbild, Schul- und Versagensängste, Depressionen und später Nachteile am Arbeitsmarkt. Viele Betroffene haben darüber hinaus Störungen beim Arbeitsgedächtnis, der Aufmerksamkeit und der räumlich-visuellen Wahrnehmung. Außerdem leiden etwa zwei Drittel gleichzeitig an Legasthenie. Bis zu 50 Prozent der Kinder mit Lernstörungen zeigen psychiatrische Auffälligkeiten, wie das Deutsche Ärzteblatt kürzlich berichtete.

Wie es zu diesen Unterschieden in der Hirnaktivität kommt, ist noch unklar. Eine zu frühe Geburt und ein niedriges Geburtsgewicht, bestimmte Stoffwechsel- und genetische Erkrankungen werden mit Dyskalklie in Zusammenhang gebracht. Auch eine genetische Disposition wird diskutiert, weil die Störung familiär gehäuft auftritt. Eine eindeutige medizinische Ursache ist indes noch nicht bekannt. Unumstritten ist: Dyskalkulie wächst sich nicht aus, Nachhilfe allein reicht nicht. Ohne gezielte Therapie bleibt die Fehlfunktion bestehen, samt den psychischen Begleitproblemen. Der Leidensdruck in den Familien ist groß (s. Interview). Was also hilft aus wissenschaftlicher Sicht wirklich?

„Das ist nicht einfach zu beantworten, weil die meisten deutschsprachigen Förderprogramme bislang nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft wurden. Trotz intensiver Recherche konnten wir nur acht Studien finden, die unseren methodischen Anforderungen genügten“, berichtet Elena Ise. Sie ist Psychologin an der Universität München und sichtete jetzt Therapiestudien auf ihre Wirksamkeit. Dabei zeigte sich überraschenderweise, dass es für den kurzfristigen Lernerfolg keinen Unterschied macht, ob die Therapie am Lehrplan ausgerichtet ist oder nicht. Ob intensive Wiederholung des Schulstoffs oder allgemeines Training mathematischer Basiskompetenzen, etwa der Zählfertigkeiten oder die Festigung von Zahlenraumvorstellungen - beides hilft. Die Förderung sollte allerdings individuell auf jedes Kind zugeschnitten sein: „Wenn Kinder nicht über das Grundlagenwissen verfügen, auf dem der Schulstoff aufbaut, sollten vorrangig Basiskompetenzen gefördert werden“, resümiert Ise. Zudem zeigte die Metastudie, dass Einzelförderung effektiver ist als Förderung in Kleingruppen, in der Klasse oder am PC. Außerdem steigt die Wirksamkeit, je länger und häufiger die Förderung dauert und je größer der zeitliche Umfang ist.

Weniger überraschend ist, dass eine Therapie durch einen spezialisierten Dyskalkulie-Therapeuten wirksamer ist als durch andere Personen, etwa Lehrer oder Studenten, und dass die Vermittlung von Rechenstrategien effektiver ist als die passive Vermittlung von Unterrichtsinhalten. Bei der Frage nach der Langfristigkeit muss die Forscherin allerdings passen: „Es gibt keinen Langfristvergleich unterschiedlicher Methoden. Jedoch zeigen erste Studien, dass beim Training mathematischer Basiskompetenzen der Lernerfolg über längere Zeit anhält.“ Wichtig sei vor allem eine exakte Diagnostik, um die Form und den Grad der Dyskalkulie zu erkennen und die passende Therapie zu finden.

Könnte es bald auch Diagnosen auf fMRT-Basis geben? Da ist Stephan Vogel skeptisch: „Das halte ich zur Zeit für unwahrscheinlich. Wir wissen einfach noch zu wenig, um diagnostische Aussagen treffen zu können. Unser Wissen über die neuronalen Mechanismen beruht ja auf Gruppenvergleichen, und das ermöglicht nicht, eine Einzelperson zu diagnostizieren.“ Allerdings hält der Forscher es für durchaus wahrscheinlich, dass das fMRT in Zukunft die herkömmliche Diagnostik zumindest ergänzen wird.

Bleibt die Frage, ob Neurowissenschaftler künftig zu neuen Therapien beitragen können. Immerhin zeigte eine Studie der Universität Zürich kürzlich, dass das computerbasierte Trainingsprogramm „Rescue Calcularis“ nicht nur die Rechenfähigkeiten verbessert, sondern auch die neuronalen Aktivierungsmuster normalisiert. Könnte man also eines Tages via fMRT den Erfolg einer Therapie nachweisen? Vogel mahnt hier zwar zur Vorsicht, da neurowissenschaftliche Ergebnisse oft überinterpretiert und voreilige Schlussfolgerungen daraus gezogen würden. Die neurowissenschaftliche Forschung zur Dyskalkulie stecke noch in den Kinderschuhen und so sei es für konkrete Ableitungen zu therapeutischen Maßnahmen noch zu früh. Doch könnte sich das in Zukunft ändern: „Solche Studien werden künftig sicher einen Beitrag zur Untersuchung der Wirksamkeit von Interventionen leisten.“

Und wer weiß – vielleicht lernt manch Beroffener die Mathematik nach erfolgreicher Therapie dann ja sogar doch noch zu lieben – für ihre unbestechliche Logik.

Die Wissenschaftsjournalistin Eva Tenzer stand als Schülerin auf Kriegsfuß mit der Mathematik. Inzwischen hat sich das Verhältnis entspannt.

Autorin: Eva Tenzer

Kurzinfo Dyskalkulie:

Dyskalkulie (auch Arithmasthenie oder Rechenstörung) ist von der WHO offiziell als Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten anerkannt. Sie tritt bei etwa sechs Prozent der Bevölkerung auf und bremst, wie auch die vergleichbar häufige Legasthenie, Kinder in ihrer schulischen Entwicklung aus. Die normal intelligenten Schüler zeigen ein grundlegend mangelhaftes Verständnis von Mengen, Größen und Zahlen. Unbehandelt kann die Dyskalkulie psychische Probleme zur Folge haben. Eine spezielle Lerntherapie gleicht die Defizite aus.

Interview:

Georgios Troumpoukis ist Diplom-Psychologe und Dyskalkuie-Therapeut.
Am Mathematischen Institut zur Behandlung der Dyskalkulie in München, das seit 23 Jahren und inzwischen mit 15 Zweigstellen in ganz Bayern vertreten ist, hilft er betroffenen Kindern und bildet Lehrer sowie Eltern zum Thema fort.

Herr Troumpoukis, wie unterscheidet sich ein Kind mit Dyskalkulie von einem, das schlicht unbegabt oder desinteressiert an Mathematik?

Kinder, die eine Therapie brauchen, haben grundsätzliche Schwierigkeiten dabei, Mengen, Größen, den Zahlenaufbau und die Grundrechenarten zu verstehen. Sie entwickeln meist eigene Lösungsstrategien, die aber nicht zu richtigen Ergebnissen führen. Und ihnen ist mit Nachhilfe nicht geholfen, weil die nicht die grundlegenden Verständnisprobleme und Denkfehler behebt.

Wie sieht die Therapie an Ihrem Institut aus?

Am Anfang steht die exakte Diagnostik; wir erstellen ein sogenanntes qualitatives Fehlerprofil, das die individuellen Probleme und Denkfehler jedes Kindes erfasst. Auf dieser Basis geht es dann an den Neuaufbau des mathematischen Denkens. Dabei nimmt der Therapeut wenn nötig den gesamten Grundschulstoff noch einmal durch. Ganz wichtig: Es gibt weder Leistungs- noch Notendruck. Die Kinder sollen in einer komplett angstfreien Lernumgebung wieder einen unbefangenen Zugang zur Mathematik finden.

Erhalten in Deutschland alle betroffenen Kinder eine Therapie?

Nein, leider nur verschwindend wenige. Viele Lehrer erkennen die Dyskalkulie nicht, weil das nicht regulärer Bestandteil ihrer Ausbildung ist. Und den meisten Eltern fehlt die Vergleichsmöglichkeit mit anderen Kindern, um zu sehen, dass hier eine Störung vorliegt, nicht Dummheit oder Faulheit, wie fatalerweise viele vermuten. Meist wird dann versucht, dem Problem mit Nachhilfe und mehr Druck beizukommen, was die Probleme aber nur weiter verschlimmert.

Wie reagieren die Kinder auf die Therapie?

Etwa die Hälfte der Kinder leidet an psychischen Folgeproblemen, wenn sie zu uns kommen. In der Therapie sind sie dann sehr erleichtert, fühlen sich - oft zum ersten Mal - verstanden und nicht mehr so isoliert. Der verständnisvolle Umgang mit dem Problem baut ihr Selbstwertgefühl auf und befreit sie von der Last „dumm“ zu sein. In der Therapie machen sie die Erfahrung, unbelastet an Matheaufgaben herangehen zu können und auch Erfolge zu haben. Es ist auch für uns ein tolles Erlbenis, Kinder so zu erleben, die sich selbst nichts mehr zugetraut haben.

Wie lange dauert die Therapie, und wer trägt die Kosten?

Sie dauert anderthalb bis zwei Jahre mit jeweils einer Stunde pro Woche. Zudem halten wir Kontakt zu den Lehrern der Kinder und bilden auch die Eltern zum Thema fort. Das kostet 230 Euro im Monat; den Großteil tragen die Jugendämter, wenn eine Diagnose der Teilleistungsstörung vorliegt.

Quellen:

Stephan E. Vogel, Daniel Ansari: Neurokognitive Grundlagen der typischen und atypischen Zahlenverarbeitung, Lernen und Lernstörungen 1(2)/2012, 135-149

Brian Butterworth u.a.: Dyscalculia – form brain to education, Science 332/2011, 1049-1053

Liane Kaufmann, Michael von Aster: Diagnostik und Intervention bei Rechenstörung, Deutsches Ärzteblatt Int. 109(45) 2012, 767-778

Elena Ise u.a.: Effektive Förderung rechenschwacher Kinder. Eine Metaanalyse, Kindheit und Entwicklung 21(3) 2012, 181-192

Claudia Oehler, Armin Born: Kinder mit Rechenschwäche erfolgreich fördern. Ein Praxishandbuch für Eltern, Lehrer und Therapeuten (Kohlhammer), 2011

www.stiftungrechnen.de
www.mathematik.de
www.rechenschwäche.de

(Obiger Artikel stammt aus der Bild der Wissenschaft, Heft 05/2013)


Die Internet-Adresse dieses Textes lautet:
https://www.Rechenschwaeche.de/Presse_TV_Radio/BdW_Falsch_kalkuliert.html

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Wir behandeln Rechenschwäche bzw. Dyskalkulie (auch „Arithmasthenie“ genannt) in München, Augsburg, Regensburg, Rosenheim und jeweiliger Umgebung seit 1989.

So sind wir erreichbar: im Institut in der Brienner Straße 48, 80333 München, sowie an allen Therapieorten unter Tel. 0180/3001699 (9 Ct/min) oder unter Tel. 089/5233142, Fax 089/5234283, per E-Mail an „Institut[at]Rechenschwaeche.de“.

Das Institut ist in Bayern in vielen Orten vertreten, u.a. in Augsburg, Herrsching, Holzkirchen, Kirchheim-Heimstetten, München (4x), Ottobrunn, Puchheim, Regensburg, Rosenheim, Unterhaching und Unterschleißheim.

Stand: 2024-03-11